22.11.2017 18:20 - bearbeitet 22.11.2017 18:27
Liebe (um 15 Grad) geneigte Aktienfreunde (m/w),
seit der Veröffentlichung meines Tiefflieger-Artikels (hier klicken) im April 2017 haben mich viele von Euch per E-Mail, Postkarte und Flaschenpost angesprochen. Ihr hattet Klärungsbedarf! Viele Hobby-Anleger haben ja gelernt, dass man Aktien am besten per Limit kauft, wenn sie schön billig sind. Meine These paßt doch irgendwie nicht dazu. Ob ich Unsinn schreibe?
Zunächst nochmal vielen Dank für Euer Feedback. Es bleibt bei meiner Aussage aus dem Tiefflieger-Artikel.
Tatsächlich helfen Abstauberlimits in der Theorie, die eigene Rendite zu verbessern, indem man Aktien billig einsammelt und teurer wieder hergibt. Das funktioniert allerdings nur, wenn die Aktie nach dem Kauf tatsächlich steigt. Genau das klappt aber in aller Regel nicht. Es gibt meistens einen Grund für den Rückgang der Aktie. Mit anderen Worten, der Markt hat immer recht. Wer dann billig einsteigt, ist klüger als alle anderen. An der Börse ist das doch eine sehr steile und auch gefährliche Behauptung.
Es mag Ausnahmen geben. Bei kurzen, etwa politisch motivierten Rücksetzern, wenn also alle Aktien in die Knie gehen, mag sich ein spotaner Kauf tatsächlich lohnen. Beispiele waren die unerwartete Brexit-Abstimmung letzten Sommer oder die Wahl von Donald Trump in 2016, mit der ebenfalls niemand gerechnet hat.
Gefährlich wird es aber, wenn -- wie in 2017 -- eigentlich fast alle Aktien steigen, und Ihr kommt auf die Idee, einzelne Tiefflieger aufzufangen. Dann haben wir es mit so genannter "relativer Schwäche" zu tun. Solche Aktien werden normalerweise jedenfalls nicht schnell wieder steigen, und oft fallen sie sogar noch jahrelang weiter. Die Begründung lest Ihr in dem verlinkten Artikel. Natürlich nur, wenn Ihr Lust und Zeit habt.
Bevor ich Euch hier mit Behauptungen belästige, dachte ich mir, ich lasse mein Rechenzentrum mal einige Statistiken aufstellen. Dazu habe ich viele dausend [sic!] Wertpapiere anhand der Schlusskurse analysiert, die mir vorliegen, teilweise seit den 1980er-Jahren. Das war sehr aufwendig -- für meine Leser gerne! Die @Praktikantin aus der Grafik ist auf einem Fortbildungskurs "Fotos verfälschen mit Photoshop für Fortgeschrittene", daher gibt es die Statistik heute nur als Bleiwüste ohne Infografiken.
These 1: Tiefflieger auffangen
Zunächst habe ich die Abstauberlimit-/Tiefflieger-These untersucht, also den Erfolg beim Kauf von Aktien, die urplötzlich stark abstürzen. In meiner Datenbank sind ca. 1,8% aller Schlusskurse kleiner als 90% des Vortageskurses. Die Aktie ist also um mindestens 10% abgestürzt. Bei 0,75% aller Schlusskurse hatten wir einen Absturz um mindestens 15%, und in 0,45% aller Fälle ist das Papier um 20% oder mehr abgestürzt -- ein echter Crash!
Ich habe nun in all diesen Fällen einen Kauf simuliert und dann geprüft, wie sich die Aktie nach einer Woche, nach einem Monat und nach einem Jahr entwickelt hat.
Ergebnis: Bei einem Absturz um 15% lag der Kurs nach einer Woche in nur 17% aller Fälle höher als nach dem Absturz. Im Durchschnitt waren die Aktien nach einer Woche um weitere 8% gefallen. Nach einem Monat hatte man bei einem Kauf direkt nach dem Absturz nur in 16% aller Fälle Gewinn gemacht. Durchschnittlich fallen diese Tiefflieger im ersten Monat nach dem Absturz um weitere 9%. Und nach einem Jahr war man immer noch nur in 37% der Fälle im grünen Bereich. Nach einem 15%-Absturz geht es innerhalb von einem Jahr durchschnittlich um weitere 5% nach unten.
Bei den anderen Rückgängen, also minus 10% und minus 20%, sind die Ergebnisse ähnlich schlecht. Wobei man mit einem 10%-Tiefflieger noch besser liegt als mit einem 15er oder gar einer Aktie, die 20% verloren hat.
Ich habe die Statistik auch nach der Zeit aufgeteilt. Dabei ist festzustellen, daß das Auffangen von Tieffliegern tendenziell in den letzten 10 oder 15 Jahren noch schlechtere Ergebnisse bringt als in den Jahren davor. Das mag daran liegen, daß mehr und mehr automatische Handelssysteme am Markt sind, die gefallene Aktien nicht anfassen. Die Älteren von uns waren früher noch erfolgreicher mit ihren Abstauberlimits, und dieses Wissen wird eben von Generation zu Generation weitergegeben. Wie immer im Leben ist es aber sinnvoll, auch mal "quer zu denken" und das Gelernte zu hinterfragen.
Eine Auswertung nach Herkunftsländern der Aktien brachte keine signifikanten Unterschiede.
Auch die Aufgliederung nach Branchen ist grundsätzlich unauffällig. Allerdings habe ich festgestellt, daß man bei Aktien der Branche Telekom mit dem Auffangen von Tieffliegern deutlich besser fährt als mit anderen Branchen; die Trefferquote nach einem Jahr beträgt immerhin etwa 50% im Gegensatz zu den genannten 37% über alle Branchen. Ich kann mir das nur mit der relativ hohen Dividendenrendite erklären, die in dieser Branche traditionell gezahlt wird und die möglicherweise private Schnäppchenjäger anlockt. Telekom-Aktien laufen aus genau diesem Grund ohnehin seltener in klaren Trends, sondern eher seitwärts.
Bei der Auswertung habe ich auch nach Aktien und nach anderen Wertpapieren (Anleihen, Zertifikate usw.) unterschieden, aber in dieser Kategorie keine wesentlichen Unterschiede festgestellt.
These 2: Kauf am Allzeithoch
Der Hobby-Anleger kauft gerne mit Abstauberlimit, der Profi kauft gerne am Allzeithoch. Um für Euch zu prüfen, wie dumm die Profis sind, habe ich auch hierfür eine Statistik rechnen lassen. Ergebnis: die Profis sind ganz und gar nicht dumm!
Zunächst: Etwa 5,4% aller Schlusskurse in meiner Datenbank sind Allzeithochs, etwa 2,2% sind Allzeittiefs. Das passt, weil die Aktienmärkte langfristig steigen, siehe hier. Wenn man die Auswertung nur auf Aktien, nicht auf andere Wertpapiere begrenzt, dann sind 4,0% der Schlusskurse Allzeithochs und 1,2% Allzeittiefs.
Nun habe ich wieder für jedes einzelne Allzeithoch einen Kauf simuliert und dann beobachtet, wie sich das Wertpapier nach dem Kauf verhalten hat. Und jetzt haltet Euch fest:
Bei einem Kauf am Allzeithoch notierte die Aktie in 82% aller Fälle nach einer Woche noch höher. Im Durchschnitt beträgt der Kursgewinn nach einer Woche 2,7%. Einen Monat nach einem Allzeithoch notieren die Aktien in 74% der Fälle noch höher, nämlich im Schnitt bei 6,4% plus. Und nach einem Jahr habe ich mit einem Kauf am Allzeithoch in 66% aller Fälle Gewinn gemacht, und zwar durchschnittlich 9% -- das ist etwas besser als die langfristige Renditeerwartung von Aktien, die bei grob 7% liegt.
Fazit: Rein statistisch hat sich das Auffangen von Tieffliegern in den letzten 30 Jahren nicht gelohnt. Rein statistisch verspricht eher der Kauf einer Aktie, die ein Allzeithoch markiert, weitere Kursgewinne.
Die theoretische Begründung für diese Thesen habe ich ausführlich in meinem Tiefflieger-Beitrag gegeben. Die statistische Auswertung der letzten Jahrzehnte zeigt jetzt auch ganz praktisch und plastisch, daß diese Behauptung richtig ist.
Wenn Ihr also das nächste Mal ängstlich auf Aktien schaut, die bereits sehr hoch notieren, und die "jetzt doch sicher schon zu teuer" sind, und wenn Ihr stattdessen lieber Absturzkandidaten kauft, dann führt Euch bitte vorher nochmal diese Statistik zu Gemüte.
Und das Schöne: Ihr müßt, wenn Ihr einfach Trendaktien kauft, auch nicht wochenlang analysieren, ob die Papiere fundamental attraktiv sind. Die Allzeithoch-Technik ist sehr einfach und macht wenig Arbeit. Wichtig in diesem Zusammenhang ist dann allerdings, dass Ihr Verluste begrenzt, also Aktien strikt wieder verkauft, wenn sie fallen und somit Euer Investment-Case nicht mehr zutrifft. Wie das geht, steht hier und hier.
Mir ist klar, dass das Gesagte im Widerspruch zu dem steht, was der Hobby-Investor fühlt und ahnt und vielleicht auch von den Älteren gelernt hat. Auch ich kann nicht hellsehen und verfüge nicht über die allein gültige Weisheit. Aber ich verfüge über sehr breite (hicks) und tiefe Datenbestände. Und vielleicht kann Euch die Statistik einen Denkanstoß geben, um langfristig Eure Trefferquote an der Börse noch etwas besser zu machen, als sie es sicherlich ohnehin schon ist.
Dabei wünsche ich Euch viel Erfolg und -- ebenso wichtig -- viel Vergnügen!
Viele Grüße aus München
herzlichst
nmh
am 19.03.2019 12:20
P.S. @NordlichtSH : Schau Dir mal den Kursverlauf von Goodman in den letzten sechs Monaten an. Der schlimmste Rückgang war zwischen Mitte Dez. 2018 und Mitte Jan. 2019. Da hat die Aktie wesentlich mehr verloren als aktuell. Die Kursrückgänge seit Mitte Jan. entsprachen immer ungefähr dem, was die Aktie jetzt verloren hat.
Daran erkennst Du, wie eine Aktie "atmet". Und Du erkennst es auf einen Blick, ohne wochenlanges Studium irgendwelcher Geschäftsdaten.
Momentan also eine Nachkaufgelegenheit. Hoffen wir, dass die Aktie nicht noch weiter zurückkommt. Unterhalb von 6,50 Euro droht Gefahr. Ich, jedenfalls, bin nicht unfehlbar. Da ich das weiss, setze ich Stops, um mich bei Fehleinschätzungen (passieren mir ständig) abzusichern.
nmh
am 19.03.2019 12:58
Danke.
Genau das muss man halt als Anleger irgendwie lernen, den Unterschied zwischen einem echten Tiefflieger, von dem man die Finger lassen sollte, und einer guten Aktie, die man nach einem Kursrücksetzer günstiger kaufen kann.
Deine Beiträge zum Thema helfen mir dabei.
am 19.03.2019 13:21
Danke, das freut mich zu hören. Immer zwei Dinge im Auge behalten:
1. Ist die Aktie über ihrer 200-Tage-Linie? Wenn ja, ist der Trend noch gesund. Je weiter unterhalb, desto Alarm.
2. Wie stark hat die Aktie in den letzten Monaten "geatmet"? Auch das hilft Dir, einen Kursrückgang richtig einzuordnen.
Und, kaufen wir Goodman heute? Ich glaube schon.
nmh
am 19.03.2019 13:27
Ich sehe gerade, dass Goodman (A0MWRF) an der Heimatbörse in Australien offenbar gar nicht korrigiert hat. Den Rückgang in Frankfurt kann ich mir nicht erklären, auch nicht mit dem AUD-Devisenkurs. Also eine weiterer Grund, vorsichtig (!) nachzukaufen, was ich unmittelbar nach dem Schreiben dieses Textes tun werde. Meine Leser (m/w) sind also LIVE dabei! 🙂
nmh
am 19.03.2019 14:22
Ich habe dann heute auch mal zugegriffen.
am 19.03.2019 17:46
Warum unbekannte Aktien aus down under kaufen? In D, Europa ;Usa gibt es aktuell reichlich viele Aktien, die dem Kriterium (über 200 Tage Linie) entsprechen? Dax und Dow sind seit einigen Tagen wieder auf Höhenflug.
Warum Aktien von etablierten Märkten? Der Handel ist bedeutend liquider , der Spread deshalb geringer. Gerade wenn alle verkaufen oder verkaufen müssen (unter 200 Tage Linie) kann es bei geringen Umsätzen eng werden.
Aber ja. Die Börsenkurse steigen weiter. Wer denkt da an Verkauf?
Ich mag Höhenflüge bei Aktien, vor allem bei denen, die ich besitze.![]()